Generationen

Erben und Erbschaftsteuer (Teil 2)

Geht es um Erben und Erbschaftsteuer ist der Hinweis auf die Vermögensungleichheit nicht weit. So beschäftigt sich beispielsweise in dem Wikipedia-Artikel zur Erbschaftsteuer in Deutschland ein ganzer Abschnitt mit dem Thema „Wachsende Vermögensungleichheit”, um eine „Ausweitung der Erbschaftsteuer als ‚effizienteste Besteuerung’ (Stefan Bach, DIW; NH) von Vermögen” zu legitimieren. In diesem Abschnitt heißt es u.a.: „Bereits im Jahr 2010/11 stammten beim reichsten Prozent der Deutschen etwa 4/5 des Vermögens aus Erbschaften.” Als Quelle wird die Untersuchung „Erbschaft und Eigenleistung im Vermögen der Deutschen: Eine Verteilungsanalyse” von Timm Bönke, Giacomo Corneo und Christian Westermeier angeben. Das Zitat soll belegen, dass die Reichsten ihr Vermögen zum überwiegenden Teil nicht selbst erarbeitet, sondern geerbt haben. Aber stimmt das auch?

So fassen Bönke/Corneo/Westermeier ihre Ergebnisse zusammen:

„Die PHF‐Daten (Bundesbank-Studie Private Haushalte und ihre Finanzen; NH) legen nahe, dass die Vermögen der deutschen Privathaushalte zu etwa ein Drittel auf Erbschaften und Schenkungen zurückgehen. Dieser Anteil verändert sich entlang der Vermögensverteilung wenig. Insbesondere nimmt die relative Bedeutung von Erbschaften mit zunehmendem Privatvermögen nicht systematisch zu. In unserem Basisszenario mit gemeinsamer Kapitalisierung ist eher der gegenteilige Zusammenhang zu beobachten: Während in der Mittelschicht gut 36 % des Vermögens auf Erbschaften zurückgeführt wird, beträgt dieser Wert in der Oberschicht nur 27 %. Trotz (…) Einschränkungen sind zumindest die Größenordnungen unserer Schätzergebnisse für die unteren 99 % der Vermögensverteilung solide empirisch untermauert. Für diesen überwiegenden Anteil der Bevölkerung zeigt unsere Untersuchung, dass Erbschaften im Schnitt keine dominierende Ursache der Vermögensbildung sind und dass die Rolle von Erbschaften mit dem Vermögen der Haushalte nicht an Bedeutung gewinnt. Wesentlich weniger gesichert sind unsere Ergebnisse für das oberste Perzentil der Vermögensverteilung.” (S. 32ff.; Hervorhebungen NH)

Genau auf dieses Perzentil aber hebt das Zitat in Wikipedia ab. Dass Erben für den weit überwiegenden Anteil der deutschen Bevölkerung (99 Prozent) keinen dominanten Einfluss auf die Vermögensbildung hat, und dass das Ergebnis für das oberste Perzentil „wesentlich weniger gesichert” ist – das wird nicht erwähnt.

Behauptungen zur Vermögensungleichheit

Von der Vermögensungleichheit wird regelmäßig behauptet, dass sie „ständig weiter wächst”, und dass Erben einen wesentlichen Anteil an der Vermögenskonzentration hat. Dazu ist folgendes festzuhalten:

  • Die Behauptung, die Vermögensungleichheit in Deutschland würde „ständig weiter wachsen” ist falsch. Die Vermögensungleichheit ist in Deutschland seit Jahren sogar leicht rückläufig (siehe hier, hier und hier).
  • Regelmäßig lassen die Betrachtungen zur Vermögensungleichheit die Vermögensaquivalente aus den Altersvorsorgevermögen außer Betracht. Wird die Vermögensverteilung unter Berücksichtigung der Altersvorsorgevermögen untersucht, sinkt die Vermögensungleichheit deutlich (siehe hier, hier und hier).
  • Erben hat – wie wir oben gesehen keinen – für den weit überwiegenden Teil der deutschen Bevölkerung keinen dominanten Einfluss auf ihre Vermögensposition.

Gleichwohl schreibt DIW-Präsident Fratzscher in einer ZEIT-Kolumne im Juli 2020: „Aber der wichtigste Grund für die großen Unterschiede in den Vermögen in Deutschland ist ein anderer: Erbschaften. Über die Hälfte aller privaten Vermögen in Deutschland heute wurde nicht durch der eigenen Hände Arbeit, sondern durch Erbschaften und Schenkungen erzielt. Dies widerspricht dem Leistungsprinzip.” Und Jens Beckert und H. Lukas R. Arndt halten in ihrer Untersuchung „Unverdientes Vermögen oder illegitimer Eingriff in das Eigentumsrecht? Der öffentliche Diskurs um die Erbschaftssteuer in Deutschland und Österreich” fest: „Der von den Befürwortern der Steuer am zweithäufigsten angeführte Themenbereich ist der Umgang mit sozialer Ungleichheit und die Auswirkungen einer Erbschaftssteuer auf die Sozialstruktur (15 Prozent). Der bedeutendste Punkt dürfte hier die Forderung nach Umverteilung und Ausgleich von zu stark ausgeprägter Vermögensungleichheit sein. Die Erbschaftssteuer soll makrosozial zur Korrektur von sozialer Ungleichheit beitragen.” (S. 16)

Doch wie sieht es in Sachen Vermögensungleichheit und Erbschaften tatsächlich aus? Der DIW-Wochenbericht 5/2021 weist darauf hin, die Wirkung von Erbschaften und Schenkungen auf die Vermögensungleichheit sei wiederholt Gegenstand wissenschaftlicher Debatten. Dabei werde einerseits argumentiert, „dass Erbschaften und Schenkungen ungleich verteilt sind und hierbei vor allem einkommensstarke oder bereits vermögende Personen häufiger und auch höhere Summen erben oder geschenkt bekommen”. Dem werde andererseits entgegengehalten, „dass intergenerationale Transfers eine dämpfende Wirkung auf die Vermögensungleichheit haben, etwa wenn hohe Vermögen von wenigen – vorwiegend älteren – Menschen durch Erbschaften und Schenkungen an mehrere junge Menschen mit geringeren Vermögen verteilt werden”. (DIW-Wochenbericht 5/2021, S. 68)

Erben: Relative versus absolute Vermögensungleichheit

Um diese unterschiedlichen Befunde nachvollziehen zu können, muss man den Unterschied zwischen relativer und absoluter Vermögensungleichheit betrachten. Grundsätzlich gilt hier: Mit Erhalt von intergenerationalen Transfers nimmt die relative Ungleichheit (gemessen am Gini-Koeffizienten) ab. Die absolute Vermögensungleichheit (gemessen an Vermögensdifferenzen in Euro) nimmt dagegen – je nach Ausgangsvermögen und Höhe der Erbschaft – zu.

Zu letzterem folgendes (adaptiertes) Beispiel des DIW: Eine Erbschaft in Höhe von beispielsweise 10.000 Euro bei einem Ausgangsvermögen von 20.000 Euro bedeute eine relative Vermögensveränderung von 50 Prozent; bei einer Erbschaft in Höhe von 40.000 Euro bei einen Ausgangsvermögen von 200.000 Euro mache die relative Bedeutung des Transfers nur 20 Prozent aus. Die relative Bedeutung selbst von kleinen Transfers sei damit am unteren Ende der Vermögensverteilung vergleichsweise groß, was insgesamt die relative Ungleichheit sinken lasse. Gleichzeitig nehme aber die absolute Ungleichheit zwischen den beiden Personen zu, da die Vermögensdifferenz um 30.000 Euro steige. (DIW Wochenbericht 5/2021, S. 69)

Wenn man wie in diesem Beispiel jeweils einen Erben am unteren und am oberen Ende der Vermögensverteilung vergleicht, dann stimmt die Rechnung natürlich. Allerdings verschiebt sich die Vermögensmasse nicht nur zwischen den Generationen, sondern in der Regel auch von wenigen zu vielen. Der Grund: Viele Erbschaften gehen nicht nur an einen Erben, sondern verteilen sich auf mehrere. Erbschaften und Schenkungen führen daher nicht grundsätzlich zu einer höheren Konzentration der Vermögen, sondern sie sorgen sogar dafür, dass die Ungleichheit abnimmt, wie das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) herausgearbeitet hat. „Rechnet man die Erbschaften und Schenkungen aus dem Nettovermögen heraus, steigt der Gini-Koeffizient um 0,02 Punkte – das heißt, die Ungleichheit steigt”, schreibt das Institut.

Erben und Erbschaftsteuer: Erbschaften reduzieren Vermögensungleichheit

Die Grafik zeigt, dass dieser Effekt auch in anderen europäischen Ländern auftritt: Überall steige der Gini-Koeffizient ohne Erbschaften und Schenkungen um 0,02 bis 0,04 Punkte, so das IW. Diese Werte scheinen winzig und damit vernachlässigbar zu sein, tatsächlich aber gelte eine Veränderung des Gini-Koeffizienten um 0,03 Punkte als ein gesellschaftlich relevanter Effekt, der nur mit umfangreichen Änderungen im Steuer- und Transfersystem eintrete. (IWD, Juni 2020)

Die Reduzierung der Ungleichheit durch Erbschaften und Schenkungen habe vor allem einen Grund: Für die Verteilungswirkung zähle zumeist nicht die absolute Höhe der Erbschaften, die für wohlhabende Haushalte meist höher ausfalle, sondern ihr relatives Gewicht zu bereits vorhandenen Vermögenswerten. „Dieses Gewicht ist für ärmere Haushalte in der Regel größer, sodass Erbschaften und Schenkungen zu einer Reduzierung der Nettovermögensungleichheit führen.” (IW Kurzbericht, Juni 2020)

Den gleichen Effekt haben auch Timm Bönke, Marten v. Werder und Christian Westermeier in ihrer Untersuchung „How inheritances shape wealth distributions: An international comparison” (Nov. 2016) beschrieben. Auf Basis der Daten des European Household Finance and Consumption Survey haben sie den Verteilungseffekt von intergenerationalen Vermögenstransfers auf die Vermögensverteilung in acht europäischen Ländern untersucht und mit aktuellen Ergebnissen für die USA verglichen. Die Ergebnisse deuteten darauf hin, so die Autoren, dass Erbschaften und Schenkungen in allen acht Ländern eine stark ausgleichende Wirkung auf die Ungleichheit des Haushaltsvermögens haben. Die Vermögenstransfers in Prozent des Nettovermögens nähmen im Allgemeinen mit steigendem Haushaltsnettovermögen ab. Vermögenstransfers erhöhetn also den gesamten Vermögensanteil der ärmeren Haushalte und führten zu einer Verringerung der relativen Ungleichheit. (vgl. S. 4)

Eine jüngere Untersuchungen zur Wirkung von Erbschaften und Schenkungen auf die Vermögensverteilung in Australien kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass Vermögenstransfers zwar eindeutig zu einem Anstieg des Vermögens der reicheren Australier führen. Gemessen an dem Vermögen, das sie bereits besitzen, haben die weniger wohlhabenden Australier jedoch einen viel größeren Zuwachs durch Vermögenstransfers erhalten. Das heißt: Vermögenstransfers erhöhen den Anteil des Vermögens der ärmeren Australier und verringerten die relative Vermögensungleichheit.

Erben: Relative oder absolute Ungleichheit – was ist „entscheidender”?

Reduktion der Ungleichheit und Erhöhung der Ungleichheit – beide Effekte sind durch Erbschaften und Schenkungen gleichzeitig möglich, je nach Betrachtung der relativen oder der absoluten Ungleichheit, resümiert das DIW (Wochenbericht 5/2021, S. 69). Und fügt folgende Wertung hinzu: „Doch im täglichen Leben ist für den einzelnen die Höhe der Transfers und damit die absolute Ungleichheit aussagekräftiger und entscheidender.” (ebd.) Ist es für den weniger Wohlhabenden wirklich „entscheidender” – um auf das obige Beispiel zurückzukommen –, dass die Vermögensdifferenz durch die beiden Erbfälle um 30.000 Euro gestiegen ist? Ist es für ihn nicht viel wichtiger, dass sich seine eigene Vermögensposition um 50 Prozent verbessert hat? Ist es nicht seltsam, dass immer dann gerne der Gini-Koeffizient, der die relative Vermögensungleichheit angibt, herangezogen wird, wenn er – wie gerne behauptet wird – steigt und steigt (s. oben)? Sinkt aber der Gini-Koeffizient für die Vermögensungleichheit durch Erbschaften und Schenkungen – ein Effekt, der in vielen wissenschaftlichen Untersuchungen für diverse Länder nachgewiesen worden ist –, dann sucht man sich ein anderes Maß für die Ungleichheit (in unserem Fall die absolute Ungleichheit) und erklärt dieses für „aussagekräftiger und entscheidender”.

Martin Kohli et al. haben in ihrem Beitrag „Erbschaften und ihr Einfluss auf die Vermögensverteilung” (2006) darauf hingewiesen, „im überwiegenden Teil der Literatur zur Einkommens- und Vermögensverteilung und zu Armut und Reichtum” werde das relative Ungleichheitskonzept verwendet (S. 74). Auch Kohli und seine Koautoren kamen schon 2006 zu dem Ergebnis, „dass eine Zunahme der Ungleichheit der Vermögensverteilung aufgrund des Erbschaftsgeschehens mit der in der Armuts- und Reichtumsforschung üblichen Methode relativer Ungleichheitsmaße nicht nachgewiesen werden kann” (S. 58). Die Ergebnisse wiesen stattdessen darauf hin, dass Erbschaften auf die bestehende Vermögensverteilung tendenziell nivellierend wirkten, weil Haushalte, die ohne Erbschaften über keinerlei Vermögen verfügen würden, erst dadurch überhaupt in die Lage versetzt würden, ein (wenn auch vielleicht geringes) Vermögen aufzubauen. Der Vermögenszuwachs durch Erbschaften bei der Gruppe der ohnehin bereits vermögenden Haushalte sei hingegen von relativ geringem Gewicht und führe daher auch nicht zu einer höheren Konzentration des Gesamtvermögens (ebd.).

Dieser Befund ist seitdem vielfach bestätigt worden. Da aber wohl für manche nicht sein kann, was nicht sein darf, wird der durch Vermögenstransfers sinkenden relativen Ungleichheit die steigende absolute Ungleichheit an die Seite gestellt. Was man für wichtiger hält, mag jeder selbst entscheiden. Tatsächlich ist es eher so, wie es das IW beschrieben hat: Für die Verteilungswirkung zählt nicht die absolute Höhe des Erbes, sondern das relative Gewicht zum bereits vorhandenen Vermögen (IWD, Juni 2020).


Zu Teil 1 der Serie „Erben und Erbschaftsteuer“ geht es hier, zu Teil 3 hier.

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