Thilo N. H. Albers (Humboldt Universität Berlin), Charlotte Bartels (DIW Berlin) und Moritz Schularick (Universität Bonn) haben mit dem Beitrag „Wealth and its Distribution in Germany, 1895-2018“ die erste umfassende Studie über die Vermögensverteilung in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert vorgelegt. Sie kombinieren Steuer- und Archivdaten, Haushaltsbefragungen, historische volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen und Vermögenslisten, um die Entwicklung der deutschen Vermögensverteilung auf lange Sicht zu analysieren.
Vermögen und seine Verteilung: die wesentlichen Ergebnisse
(1) Die Vermögenskonzentration in den Händen der obersten 1 Prozent in Deutschland sei langfristig um fast die Hälfte zurückgegangen, von fast 50 Prozent im Jahr 1895 auf heute 27 Prozent. Fast der gesamte Rückgang des Vermögensanteils der obersten 1 Prozent erfolgte in weniger als 40 Jahren, zwischen dem Ersten Weltkrieg und den ersten Jahren der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Zwischenkriegszeit und die Vermögensbesteuerung nach dem Zweiten Weltkrieg zeichneten sich als die großen Gleichmacher in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts aus. Seit den frühen 1950er Jahren bewege sich der Anteil der obersten 1 Prozent innerhalb einer engen Spanne. (Abbildung 1)
„Ein klarer Trend hin zu einem immer größeren Anteil der reichsten ein Prozent am Gesamtvermögen lässt sich nicht beobachten“, schreiben Albers, Bartels und Schularick in einem aktuellen Beitrag für die F.A.Z. („Der Reichtum der Deutschen“, F.A.Z., 1. August 2022, S. 16). Hinter dieser oberflächlichen Stabilität würden sich jedoch erhebliche Bewegungen in der Gesamtverteilung des Vermögens verbergen, insbesondere in den letzten Jahrzehnten.
(2) Seit der Wiedervereinigung im Jahr 1990 habe sich das durchschnittliche Vermögen der 50-90 Prozent fast verdoppelt und das der obersten 10 Prozent mehr als verdoppelt, während das durchschnittliche Vermögen der unteren 50 Prozent fast unverändert geblieben sei (Abbildung 8a). Diese Trends spiegelten sich in der Entwicklung des Medianvermögens für die verschiedenen Gruppen wider (Abbildung 8b). Das mediane Vermögen der 50-90 Prozent (70. Perzentil) stieg von etwa 200.000 Euro im Jahr 1993 auf fast 400.000 Euro im Jahr 2018. Das Medianvermögen der obersten 10 Prozent (95. Perzentil) stieg von etwa 600.000 Euro im Jahr 1993 auf fast 1,4 Millionen Euro im Jahr 2018.
(3) Die Bewertung von Vermögenswerten habe dabei eine wichtige Rolle gespielt. Nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990 hätten zwei Trends die deutsche Vermögensverteilung geprägt: Die Haushalte an der Spitze der Verteilung erzielten beträchtliche Kapitalgewinne aufgrund des steigenden Unternehmensvermögens (Das Unternehmensvermögen ist die Summe des Eigenkapitals in (1) Aktiengesellschaften, (2) Gesellschaften mit beschränkter Haftung und Quasi-Kapitalgesellschaften und (3) Unternehmen ohne eigene Rechtspersönlichkeit.). Gleichzeitig verzeichnete die Mittelschicht große Wertzuwächse bei Wohnimmobilien, so dass sich der Abstand zwischen den Inhabern von Vermögenswerten der Ober- und der Mittelschicht nur mäßig vergrößerte. (Abbildung 10)
Das reale Vermögen des Durchschnittshaushalts der unteren 50 Prozent stagnierte jedoch in den vergangenen vier Jahrzehnten. Das durchschnittliche Vermögen der ärmeren 50 Prozent der deutschen Gesellschaft habe Ende der 1970er Jahre bei rund 20.000 Euro gelegen. 40 Jahre später liege es inflationsbereinigt immer noch auf demselben Wert, führen Albers, Bartels und Schularick in der F.A.Z. dazu aus. Ohne Berücksichtigung der Sozialversicherungsansprüche habe sich der Anteil der unteren 50 Prozent am Gesamtvermögen von 5 Prozent im Jahr 1978 auf 2,8 Prozent im Jahr 2018 fast halbiert.
Ergänzend zu der Darstellung von Albers, Bartels und Schularick zeigt die nachfolgende Grafik der Wealth Distribution Database die Entwicklung der Vermögensungleichheit in Deutschland von 1896 bis 2021.
Die prozentualen Anteile am Gesamtvermögen seit 1993 (weiter geht die Wealth Distribution Database bei den Bottom-50 % nicht zurück) sehen wie folgt aus:
1993 | 2001 | 2011 | 2021 | |
Top-1 % | 22,9 | 26,1 | 27,1 | 29,7 |
Top-10 % | 53,2 | 57,1 | 58,8 | 59,6 |
Bottom-50 % | 5,7 | 3,9 | 3,1 | 3,4 |
Danach ist der Anteil der Bottom-50 % seit 1993 um 40 Prozent von 5,7 auf 3,4 Prozent zurückgegangen.
Um diesen Rückgang zu verstehen, muss man sich darüber klar werden, dass die Kapitalrenditen zu unterschiedlichem Vermögenswachstum führten, da sich die Portfolios über die Vermögensverteilung hinweg systematisch und anhaltend unterschieden, so Albers, Bartels und Schularick (s. oben Abbildung 10). Sie weisen darauf hin, dass das Portfolio der Haushalte in der unteren Hälfte der Verteilung hauptsächlich aus Spareinlagen und anderen Finanzanlagen wie Lebensversicherungen mit niedrigen Renditen bestehe, die nicht an Wert gewonnen hätten. Für die deutsche Mittelschicht (50-90 Prozent) und die obere Mittelschicht sei dagegen das Wohneigentum mit einem Portfolioanteil von fast 60 Prozent bzw. 55 Prozent der wichtigste Vermögenswert. Schließlich werde Unternehmensvermögen zur dominierenden Vermögensklasse, wenn man zum obersten Perzentil der deutschen Vermögensverteilung aufsteige, und mache 50 Prozent des Vermögens aus.
Das Problem der divergierenden Kapitalrenditen bringen die Autoren folgendermaßen auf den Punkt: „Real estate wealth is the most important form of wealth for most households. In 2018, about 53% of total gross wealth is residential real estate.” Die viel zu geringe Wohneigentumsquote in Deutschland erweist sich einmal mehr als Problem – nicht zuletzt bei der Vermögensverteilung mit Blick (auch) auf die untere Hälfte der Verteilung. Auch in der F.A.Z. legen die Autoren den Finger in die Wunde: „Ein breiterer Zugang auch ärmerer Haushalte zu Anlageklassen mit höheren langfristigen Renditen als Sparbücher bleibt ein Desiderat der Vermögensbildung in Deutschland.“
Vermögen und seine Verteilung: die Schlussfolgerungen
Eine zentrale Erkenntnis sei, dass in Deutschland, wie auch in anderen Ländern, Veränderungen in der Bewertung des vorhandenen Vermögens eine wichtige Rolle für Veränderungen in der Vermögensverteilung über längere Zeiträume spielten. Die Portfolios der Haushalte unterschieden sich innerhalb der Verteilung, so dass relative Preisänderungen auf den Aktien- und Immobilienmärkten den gesamten Vermögensbestand neu bewerteten und damit die gesamte Vermögensverteilung in quantitativ bedeutsamer Weise beeinflussten.
In den letzten 70 Jahren habe der Vermögensanteil der obersten 1 Prozent um das Nachkriegsniveau geschwankt. Seit der Wiedervereinigung sei die Vermögenskonzentration an der Spitze nur mäßig angestiegen. Der Hauptgrund für diese Stabilität liege darin, dass die Mittelschicht erhebliche Zuwächse bei den Immobilienvermögen erzielt habe, wodurch die Konzentration an der Spitze abgeschwächt worden sei. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung besitze jedoch kein Vermögen und habe daher nicht in vollem Umfang von den steigenden Aktien- oder Immobilienpreisen profitiert.
Schließlich: Zwischen 1993 und 2018 habe sich die Kluft zwischen den „Besitzenden“ und den „Habenichtsen“ deutlich vergrößert. In der unteren Hälfte der Verteilung sei das Vermögen kaum gewachsen, während sowohl die oberen 10 Prozent als auch die 50-90 Prozent der Haushalte ihr Vermögen in etwa verdoppelt hätten. Infolgedessen sei ein Haushalt in den obersten 10 Prozent der Vermögensverteilung heute im Durchschnitt 100 Mal reicher als ein Haushalt in der unteren Hälfte. Vor 25 Jahren habe der Unterschied noch das 50-fache betragen.
In ihrem Beitrag für die F.A.Z. gelangen Albers, Bartels und Schularick zu einem Resümee, von dem man sich wünschte, dass es in politischen Kreisen nicht nur gehört, sondern befolgt wird. Sie schreiben:
„Für die gegenwärtige Debatte um die Vermögensverteilung liefert die historische Perspektive keine Argumente im Sinne einer zunehmenden Konzentration der Vermögen an der Spitze. Signifikant ist allerdings die wachsende Lücke zwischen Vermögen der oberen Hälfte der Gesellschaft, wo der Wert von Aktien- und Immobilienvermögen in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen ist, und der unteren Hälfte, wo die Vermögen in den letzten 40 Jahren stagnierten. Der fallende Anteil der unteren 50 Prozent am Gesamtvermögen und entsprechende Konzepte zum Vermögensaufbau für einkommensschwächere Haushalte verdienen aus diesem Blickwinkel mehr gesellschaftliche Aufmerksamkeit als weitgehend unbegründete Sorgen um eine wachsende Vermögenskonzentration an der Spitze.“
Albers/Bartels/Schularick, F.A.Z., 1. August 2022, S. 16
Das ist eine hoch interessante Studie, die wichtige Debattenbeiträge besonders zur #Ungleichheit liefert. Sie rückt auch die Vermögensbildung auf die politische Agenda. Dazu mein „Kochbuch“: https://zeitung.faz.net/faz/wirtschaft/2022-05-27/26a36ec8c24123510ac4e6b1f06c62d4/?GEPC=s9