Superyacht

Die Oxfam-Obsession

Alle Jahre wieder dasselbe Ritual: Anlässlich des World Economic Forum (WEF) in Davos veröffentlicht die Entwicklungsorganisation Oxfam ihren „Ungleichheitsbericht”. Nach unseren Recherchen geschieht das in dieser Form seit 2014. Vereinfacht lässt sich die Kernbotschaft dieser Berichte mit „Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer” zusammenfassen. Für Oxfam ist die Lösung für diese von ihr diagnostizierte Entwicklung klar: deutlich mehr Umverteilung durch Vermögensteuern, Erbschaftsteuern etc. Die mediale Berichterstattung zu den Oxfam-Berichten folgt Jahr für Jahr auf dem Fuße. Illustriert werden die Artikel üblicherweise mit Bildern großer Yachten, die in irgendeinem Hafen auf ihre „superreichen” Besitzer warten.

Das „Wörterbuch der Soziologie” von Hartfiel/Hillmann (3. Aufl. 1982) definiert „Ritual” wie folgt: „‚Übung’, ‚Brauchtum’, expressiv betonte Haltung mit großer Regelmäßigkeit des Auftretens in gleicher Situation u. mit gleichem Ablauf. R.e sind zumeist traditionell ‚festgefahren’. Beim Auftreten oder bei der Annäherung entspr. Situationen tendieren die Verhaltenspartner spontan bzw. ohne bes. Entscheidung u. ohne Nachdenken über Funktion u. damit ‚Sinn’ ihres Tuns zum R.”

Eine sehr treffende Beschreibung für das, was alljährlich im Januar mit dem „Ungleichheitsbericht” von Oxfam abläuft. Dabei ist es nicht so, dass es über Ungleichheit und Verteilung nichts zu diskutieren gäbe. Im Gegenteil. Nur zeigt die Art und Weise, wie Oxfam das Thema behandelt, „zunehmend obsessive Züge”, wie Christoph Eisenring in seinem Kommentar in der NZZ anlässlich der Vorlage des jüngsten Oxfam-Berichts angemerkt hat.

Eine Tour d’Horizon durch die Berichte der letzten zehn Jahre zeigt dies.

Die Oxfam-Berichte 2014-2023

Schon 2014 spricht Oxfam von einer „growing tide of inequality” und „extreme economic inequality” sowie von „extreme levels of wealth concentration”. Zu den Empfehlungen an das WEF gehört unter anderem „(to) support progressive taxation on wealth and income”. Außerdem sei die Eindämmung der „power of the rich to influence political processes and policies that best suit their interests” erforderlich.

„Global wealth is becoming increasing concentrated among a small wealthy elite”, heißt es in dem Oxfam-Bericht im Januar 2015. Hier taucht auch die Berechnung auf, nach der die 80 reichsten Personen der Welt genauso viel Vermögen besitzen, wie die untere Hälfte der Weltbevölkerung. Auch wenn der 2015er-Bericht von einer „inequality explosion” und „extreme inequality” spricht, ist der Ton (ähnlich wie 2014) insgesamt noch moderat. Für eine gerechte Verteilung der Steuerlast, um gleiche Ausgangsbedingungen zu schaffen, fordert Oxfam: „shifting the tax burden away from labour and consumption and towards wealth, capital and income from these assets; (…) national wealth taxes and exploration of a global wealth tax”. Das ist aber nur eine von insgesamt neun Forderungen zur Bekämpfung der Ungleichheit.

2016 gibt es erstmals eine deutsche Kurzfassung des umfangreicheren englischen Berichts. Sie trägt den Titel „Ein Wirtschaftssystem für die Superreichen. Wie ein unfaires Steuersystem und Steueroasen die soziale Ungleichheit verschärfen”. Die Spirale der wachsenden sozialen Ungleichheit drehe sich weiter, heißt es einleitend, und werde weltweit zu einem „immer größeren Problem”: Mittlerweile besitze ein Prozent der Weltbevölkerung mehr Vermögen als der Rest der Welt zusammen. Nur 62 Menschen besäßen genauso viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Ein wesentlicher Grund für die zunehmende Konzentration und Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen seien die hohen Renditen, die durch Kapitalanlagen erzielt würden und der geringe Lohnzuwachs bei Angestellten und Arbeitern. Oxfam fordert ein Ende der Steueroasen und mehr Steuergerechtigkeit. Hierzu müssten unter anderem „Vermögen, Kapitalgewinne und hohe Einkommen deutlich stärker besteuert werden”.

Laut dem Oxfam-Bericht von 2017 „Ein Wirtschaftssystem für alle. Auswege aus der Ungleichheitskrise” besitzen inzwischen die acht reichsten Personen zusammenen genauso viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung (die Zahl wurde ein Jahr später aufgrund aktuellerer Daten auf 61 korrigiert, 2019 auf 49). Es gebe ein „ungekanntes Maß sozialer Ungleichheit”. Daher brauchten wir ein Wirtschaftsystem, „in dem Menschen wichtiger sind als Profite”, fordert Oxfam. Zu den Ursachen von Ungleicheit gehörten die „falschen” Annahmen, der Markt könne Probleme grundsätzlich besser lösen als der Staat und Wirtschaftswachstum solle das Hauptziel politischen Handelns sein. Diese Fehlannahmen hätten Anreize für eine Unternehmenspolitik mit „verheerenden Auswirkungen” gesetzt, darunter Shareholder-Value-Orientierung und „aggressive Steuervermeidung”. Neben fairen Löhnen und höheren Investitionen in Bildung, Gesundheit und soziale Sicherung fordert Oxfam Steuergerechtigkeit als weiteres Kernelement einer humaneren, soziale Ungleichheit reduzierenden Wirt­ schaftsordnung: „Multinationale Kon­zerne und reiche Einzelpersonen müssen sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung stellen und ihren fairen Beitrag zum Gemeinwohl leisten.”

„Die globale Ungleichheit spitzt sich zu”, schreibt Oxfam im Januar 2018 in seinem Bericht „Der Preis der Profite. Zeit, die Ungleichheitskrise zu beenden”. 82 Prozent des globalen Vermögenswachstums seien 2017 an das reichste Prozent der Weltbevölkerung gegangen, während das Vermögen der ärmeren Hälfte der Weltb­evölkerung stagniert habe. Das reichste Prozent der Weltbevölkerung besitze über die Hälfte des globalen Vermögens – mehr als die übrigen 99 Prozent zusammengenommen. Mehr und mehr wird die Ungleichheit laut Oxfam zu einem Geschlechterphänomen, denn: Die großen Gewinner seien „vorrangig Männer des globalen Nordens. Die Verliererinnen sind hauptsächlich Frauen, insbesondere im globalen Süden.” Zwar weist Oxfam darauf hin, dass die Einkommensungleichheit global gesehen abnimmt, insgesamt sei sie „jedoch nach wie vor extrem hoch”. Die Vermögensungleichheit habe sich auf globaler Ebene „drastisch verschärft”. Auch die nationale Vermögensungleichheit habe „vielerorts weiter zugenommen” (auch in Deutschland).

Die strukturellen Ursachen für die wachsende Ungleichheit seien weltweit ähnlich: „Unser Wirtschaftssystem stellt die Profitinteressen einer kleinen Gruppe über das Wohl der großen Mehrheit.” Das zeige sich insbesondere an der Fixierung auf Aktiengewinne, an Steuervermeidung, einer „überzogenen Sparpolitik” und Privatisierungen sowie in der „Beschränkung der Rechte von Zivilgesellschaft” und Arbeitnehmern. Drei Politikfelder sind für Oxfam „zentral, um die weltweite Einkommens- und Vermögensungleichheit zu verringern: Änderungen in der Steuerpolitik (u.a. Trockenlegung der Steueroasen, Einführung einer Finanztransaktionssteuer), eine gerechte Einkommensp­olitik sowie Investitionen in öffentliche Bildungs- und Gesundheitssysteme.

Auch laut dem Bericht von Januar 2019 „Im öffentlichen Interesse. Ungleichheit bekämpfen, in soziale Gerechtigkeit investieren” „boomt” Ungleichheit. In den zehn Jahren seit dem Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise seien die Vermögen der Reichsten drastisch gestiegen. Die Zahl der Milliardäre habe sich in dieser Zeit fast verdoppelt. „Dramatisch zurückgegangen” sei dagegen das Tempo, in dem „extreme Armut” reduziert worden sei: Es habe sich seit 2013 halbiert. Um Steuern „gerecht und sozial” zu gestalten fordert Oxfam die Bundesregierung und Deutschlands Repräsentanten in den EU-Institutionen auf, die Steuervermeidung zu stoppen, den „ruinösen Wettbewerb um die geringste Unternehmens­besteuerung innerhalb und außerhalb der EU” zu beenden, um so Konzerne „angemessen” zu besteuern, und schließlich „Superreiche stärker in die Verantwortung (zu) nehmen” durch eine „weltweite Vermögenssteuer”. Erbschaft- und Vermögensteuern seien von zentraler Bedeutung, um Chancengleichheit zu fördern sowie „ererbte Macht und Privilegien” zu verringern.

Der Oxfam-Report „Im Schatten der Profite. Wie die systematische Abwertung der Hausarbeit, Pflege und Fürsorge Ungleichheit schafft und vertieft” stellt im Januar 2020 fest: „Die soziale Ungleichheit ist unerträglich hoch. Die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung besitzt gemeinsam nicht einmal ein Prozent des globalen Vermögens.” Einem Prozent der Menschheit gehörten 45 Prozent des globalen Vermögens. An der Spitze der Vermögensverteilung stünden 2.153 Personen, die jeweils über mehr als eine Milliarde US-Dollar Privatvermögen verfügten. Nach Angaben der Weltbank habe 2015 etwa jeder Zehnte von weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag gelebt – insgesamt seien das 736 Millionen Menschen.

In einer Fußnote erläutert Oxfam, die Zahl der Menschen in extremer Armut weltweit sei von 1,9 Milliarden im Jahr 1990 auf 736 Millionen im Jahr 2015 gesunken. Anstatt diesen bemerkenswerten Rückgang um 158 Prozent positiv hervorzuheben, schreibt Oxfam: „Zwar ist diese Zahl (der Menschen in extremer Armut; N.H.) in den vergangenen Jahren gesunken, doch die Geschwindigkeit, in der extreme Armut abnimmt, hat sich zugleich halbiert.” Und zwar seit 2013 von zuvor ca. 1 Prozent pro Jahr auf etwa 0,6 Prozent pro Jahr (was keine Halbierung ist).

Für eine „verteilungs- und geschlechtergerechte Steuerpolitik” fordert Oxfam, dass „Vermögende durch progressive Vermögens-, Erbschafts- und Kapitalertragssteuern sowie eine umfassende Finanztransaktionssteuer ihren gerechten Beitrag zum Allgemeinwohl leisten”. Darüber hinaus müsse die Bundesregierung Steuervermeidung stoppen und für eine gerechte Besteuerung von Konzernen weltweit sorgen.

Im Januar 2021 erschien der erste Oxfam-Bericht seit Ausbruch der Corona-Pandemie. Titel: „Das Ungleichheitsvirus. Wie die Corona-Pandemie Ungleichheit verschärft und warum wir unsere Wirtschaft gerechter gestalten müssen”. Als Folge der Corona-Pande­mie drohe die Ungleichheit erstmals in fast allen Ländern gleichzeitig anzusteigen, bemerkt Oxfam. Diese Krise verschärfe die vorher schon „dramatischen Unterschiede zwischen Arm und Reich”. Bereits neun Monate nach Ausbruch der Pandemie hätten die 1.000 reichsten Milliardäre – „hauptsächlich weiße Männer” – wieder so viel Vermögen wie in der Zeit vor COVID-19. Für die ärmsten Menschen der Welt könnte die Erholung dagegen 14-mal länger dauern, also länger als ein Jahrzehnt.

Wie unter einem Brennglas zeigten sich in der Pandemie die „vielfältigen Formen der Unterdrückung und Marginalisierung, denen Menschen unter anderem aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Sexualität, ihres Alters, einer Behinderung sowie im Zuge von Rassismus und Klassismus ausgesetzt sind”. Diese „Diskriminierungen” seien wiederum „in Strukturen von Privilegien und Unterdrückung verwurzelt, die durch Jahrhunderte von Patriarchat, Kolonialismus und strukturellem Rassismus (…) geformt wurden”. Mehr und mehr wird deutlich, dass die Narrative der Identitätspolitik und der sogenannten „Critical Race Theory” Eingang in die Argumentation von Oxfam finden. Extreme Ungleichheit sei letztendlich das Produkt eines „nicht funktionierenden Wirtschaftssystems, das seine Wurzeln in neoliberalen Denkansätzen hat und einige wenige Reiche und Mächtige durch Vereinnahmung von Politik und Wirtschaft begünstigt. In den Händen einer weißen, zumeist männlichen Gruppe häufen sich so riesige Profite an, auf Kosten von Menschen in prekären Situationen sowie Frauen, BIPoC (das Kürzel soll für „Black, Indigenous, People of Color” stehen; N.H.) und anderen historisch marginalisierten und unterdrückten Gruppen.”

Der „unverhältnismäßige Ein­fluss von Großk­onzernen auf politische Entscheidungen” sei einer der Hauptgründe dafür, dass ihre Gewinne und Vermögen weiter stiegen und die gegenwärtigen ungleichen Strukturen fortbestünden. Ein Grundproblem sei, „dass einige wenige Konzerne immer mehr Macht an sich reißen, den Markt sowie die Politik beherrschen und extrem hohe Profite erzielen. Die Folge: Superreiche gewinnen, Menschen in Lohnarbeit verlieren. Die Schere zwischen Arm und Reich wird so immer größer. Eine Hauptursache der sozialen Ungleichheit liegt damit im Marktgeschehen selbst.” Auch der 2021-er Bericht von Oxfam enthält die sattsam bekannten Forderungen nach einer stärken Besteuerung großer Vermögen und einer „umfassenden Finanztransaktionssteuer”, ergänzt um eine „einm­­alige Steuer auf in der Corona-­Krise ent­stehende außergewöhnliche Ge­win­ne von Konzernen”.

„Gewaltige Ungleichheit. Warum unser Wirtschaftssystem von struktureller Gewalt geprägt ist und wie wir es gerechter gestalten können”, so betitelte Oxfam seinen Bericht im Januar 2022. Einmal mehr liegen die Ursachen der „sich verschärfenden Ungleichheitskrise” – „Rekordgewinne” für Konzerne und Milliardäre einerseits und „zunehmende Armut” andererseits – in unserem Wirtschaftssystem, das von „struktureller wirtschaftlicher Gewalt” geprägt sei. Gefordert wird daher ein „grundlegend anderes Wirtschaftssystem”, „in dem wirtschaftliche Entscheidungen demokratisch gefällt werden und dessen handlungsleitendes Prinzip nicht der Profit, sondern das Gemeinwohl ist”. Stattdessen habe das reichste Prozent der Weltbevölkerung seit 1995 fast 20-mal mehr Vermögen angehäuft als die ärmsten 50 Prozent der Menschheit zusammen (zur globalen Ungleichheit siehe auch das Capital-Interview mit Andreas Peichl, Leiter des ifo Zentrums für Makroökonomik und Befragungen und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München, über die Datenlage zur Vermögensverteilung und die selektive Methodik von Oxfam). Als die Corona-Pandemie begann, habe fast die Hälfte der Menschheit – 3,2 Milliarden Menschen – unterhalb der von der Weltbank definierten erweiterten Armutsgrenze von 5,50 Dollar pro Tag gelebt. Heute seien es aufgrund der Pandemie weltweit 163 Millionen Menschen zusätzlich.

Interessant ist hier die Erläuterung zur Armutsgrenze in einer Fußnote: Die Weltbank definiere drei Armutsgrenzen: 1,95 Dollar für extreme Armut, 3,20 Dollar und 5,50 Dollar, heißt es dort. „Oxfam verwendet hauptsächlich die Grenze von 5,50 Dollar, weil wir davon überzeugt sind, dass diese das genaueste Bild von Armut vermittelt. Eine ausschließliche Konzentration auf extreme Armut ist nicht hilfreich, da sie Milliarden von Menschen, die tagtäglich mit Armut konfrontiert und die nur einen Schritt vom Elend entfernt sind, übersieht.” Die Verwendung der Armutsgrenze von 5,50 Dollar hat natürlich nicht zuletzt taktische Gründe. Da Oxfam im Januar 2020 (ebenfalls in einer Fußnote) konstatieren musste, die Zahl der Menschen in extremer Armut sei weltweit von 1,9 Milliarden im Jahr 1990 auf 736 Millionen im Jahr 2015 zurückgegangen (s. oben), schadet das der eigenen Argumentation, nach der Armut ständig zunimmt. Da bietet es sich an, die „erweiterte Armutsgrenze” von 5,50 Dollar zu verwenden, da sich so viel mehr Menschen wenn nicht als arm, so doch aber als „mit Armut konfrontiert” oder „nur einen Schritt vom Elend entfernt” bezeichnen lassen.

Als Kern des Systems „struktureller wirtschaftlicher Gewalt” hat Oxfam die „Doktrin des Shareholder Value” ausgemacht. Für ein gerechteres Wirtschaftssystem, „in dem alle ihren fairen Beitrag leisten und das Gemeinwohl mehr zählt als Profitmaximierung um jeden Preis”, gelte es, „Konzerne und ihre sehr vermögenden Besitzer national und international durch eine progressive Steuerpolitik stärker in die Verantwortung zu nehmen”. Daher solle die Bundesregierung die Vermögensteuer für sehr hohe Vermögen wieder einführen und eine Abgabe auf Vermögen über einer Million Euro prüfen.

In seinem jüngsten Bericht „Umsteuern für soziale Gerechtigkeit”, veröffentlicht im Januar 2023, konstatiert Oxfam eine „Explosion der sozialen Ungleichheit”, die „immer extremere Ausmaße” annehme. Ein zentraler Baustein für ein Wirtschaftssystem, „in dem das Gemeinwohl aller über dem Profit einiger Weniger steht”, sei die Besteuerung der „reichsten Bevölkerungsteile”, insbesondere des reichsten Prozents, das 45,6 Prozent des weltweiten Vermögens besitze.

„Zum ersten Mal seit 25 Jahren haben extremer Reichtum und extreme Armut gleichzeitig stark zugenommen”, heißt es in dem Bericht. Nach Angaben der Weltbank seien im Jahr 2020 über 70 Millionen Menschen zusätzlich in die extreme Armut gedrängt worden und müssten mit weniger als 2,15 Dollar pro Tag auskommen (die Weltbank hat die Grenze für extreme Armut von 1,90 Dollar auf 2,15 Dollar erhöht). Was Oxfam weglässt, ist der Zusatz „increasing the global total to over 700 million”, der im Weltbank-Bericht steht (der Anstieg beläuft sich von 648 auf 719 Millionen). Die Weltbank nennt dies einen „historic setback in the fight against global poverty”. Einerseits stimmt das, da erstmals seit 30 Jahren die Anzahl der Menschen, die in extremer Armut leben, durch die Covid-Pandemie wieder angestiegen ist (s. folgende Abb.).

Was Oxfam übersieht oder relativiert: Entwicklung der extremen Armut in der Welt seit 1990

Andererseits zeigt die absolute Zahl (719 Millionen) verglichen mit der Zahl von 1990 (1,9 Milliarden) immer noch eine bemerkenswerte Entwicklung (siehe dazu auch unseren Beitrag „Vermögen wachsen weltweit, aber auch die Armut geht zurück”). Beides sollte man im Auge haben.

Bei der „direkten Verringerung von Armut und Ungleichheit” spielt das Steuersystem eine „Schlüsselrolle”, so Oxfam: Eine „progressive Besteuerung” könne mit einer „ambitionierten Ausgestaltung, d.h. z.B. einer sehr hohen Besteuerung des reichsten Prozents einer Gesellschaft”, extreme Vermögensungleichheit „tatsächlich verringern” und die Zahl der Milliardäre reduzieren. Darüber hinaus „(befördert) die Besteuerung großer Vermögen (…) Geschlechtergerechtigkeit und verringert rassistische Ungleichheit”; Steuern für Reiche zu erhöhen sei zudem ein „Beitrag für Klimagerechtigkeit”.

Um die „grassierende Armut und Ungleichheit” zu bekämpfen seien „verschiedene sich ergänzende Arten von Einkommens- und Vermögenssteuern” notwendig. Ziel müsse es sein, durch einen „auf den jeweiligen Länderkontext angepassten Mix von Steuern Reichtum so stark zu besteuern, dass Ungleichheit tatsächlich abgebaut wird”. In Deutschland, Europa und weltweit sollten daher Übergewinne besteuert, die Vermögensteuer wieder eingeführt, Ausnahmen bei der Erbschaftsteuer beendet und eine einmalige „Solidaritätsabgabe” auf Milliarden- und Millionenvermögen erhoben werden.

Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung

„Growing tide of inequality” (2014), „inequality explosion” und „extreme inequality” (2015), „Spirale der wachsenden sozialen Ungleichheit” (2016), „ungekanntes Maß sozialer Ungleichheit” (2017), „globale Ungleichheit spitzt sich zu” (2018), „Ungleichheit boomt” (2019), „soziale Ungleichheit ist unerträglich hoch” (2020), „dramatische Unterschiede zwischen Arm und Reich” (2021), „gewaltige Ungleichheit” und „sich verschärfende Ungleichheitskrise” (2022), „Explosion der sozialen Ungleichheit” (2023) – seit zehn Jahren der immer gleiche Alarmismus. Seit zehn Jahren die immer gleiche Verantwortungszuschreibung. Und seit zehn Jahren die immer gleichen Vorschläge, wie das Problem zu lösen sei.

Ist es übertrieben, wenn Christoph Eisenring in der NZZ festhält, die Beschäftigung von Oxfam mit den „Superreichen” zeige „zunehmend obsessive Züge”? Keineswegs!

Dabei ist es nicht so, dass es in den Oxfam-Berichten nicht Punkte gibt, die zurecht angesprochen werden (wie beispielsweise die Praxis einiger großer internationaler Unternehmen, sich der Pflicht zu entziehen, Steuern zu zahlen), über die diskutiert werden muss und für die Lösungen gefunden werden müssen. Auch steht völlig außer Frage, dass die fortgesetzte Bekämpfung extremer Armut weltweit zu den wichtigten Aufgaben gehört. Nur ist die, vorsichtig ausgedrückt, kapitalismuskritische Ursachenbeschreibung von Oxfam, nach der ein von „struktureller wirtschaftlicher Gewalt” geprägtes Wirtschaftssystem, die „kurzfristigen Profitinteressen” der „Großkonzerne” und ihrer Eigentümer, „neoliberale Prinzipien der Gewinnmaximierung”, das Vermögen der „Superreichen” sowie „patriarchale Machtstrukturen” und die „Vorherrschaft” der „weißen Männer” die Ursache allen Übels seien, derart einseitig und ideologiebehaftet, dass eine Verständigung in weite Ferne rückt.

Hinzu kommt: Die Oxfam-Autoren können sich das Wirtschaftsgeschehen offensichtlich nur als Nullsummenspiel vorstellen, bei dem die Summe der Gewinne und Verluste aller Spieler zusammengenommen gleich null ist. Das heißt also, die einen – die Reichen – können nur gewinnen, was die anderen – die Armen – verlieren. Die von Oxfam propagierte Lösung liegt bei dieser Betrachtung natürlich nahe: Nehmt das Geld von den Reichen und gebt es den Armen. Das klingt zwar nach Robin Hood und nach Gerechtigkeit, funktioniert so aber nicht, wie unzählige Beispiele sozialistischer Gesellschaftsversuche gezeigt haben.

Marius Kleinheyer, Senior Research Analyst bei Flossbach von Storch Research Institute, schreibt dazu in seinem Beitrag „Das politische Geschäft mit der Armut”:

„Der expliziten Forderung für Umverteilung liegt die implizite Annahme zu Grunde, dass eine gegebene Menge an Wohlstand ‚gerechter’ verteilt werden müsste. Stattdessen hat die Geschichte und die ökonomische Theorie gezeigt, dass es innerhalb von marktwirtschaftlichen Institutionen keine Grenzen des Wohlstandes gibt. Stattdessen kann durch unternehmerisches Handeln und technologische Innovationen immer mehr Wachstum erzeugt werden. Eine wichtige Grundbedingung dafür ist die Möglichkeit der Kapitalakkumulation. Wenn Oxfam das Schicksal der ärmsten Menschen am Herzen liegt, müssen sie zu Anwälten für mehr Marktwirtschaft insbesondere in Afrika werden. Die Herstellung von Gleichheit dadurch, dass alle gleich arm werden, nützt niemandem.”

Es sind ja gerade die durch die Globalisierung wirkenden marktwirtschaftlichen Prinzipien, die seit 1990 rund 1,2 Milliarden Menschen aus extremer Armut herausgeführt haben (s. dazu auch den Artikel „Der Irrtum vom ‚Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich‘“ von Dorothea Siems in der Welt). Allerdings hat Oxfam, betrachtet man die förmliche Besessenheit, mit der die Organisation den Kapitalismus als Ursache allen Übels bekämpft, offensichtlich „die effektive Armutsbekämpfung aus den Augen verloren”, wie Christoph Eisenring in der NZZ schreibt.

Wie kann es weitergehen? Jedenfalls nicht so, wie die Debatte aktuell läuft. Johannes Pennekamp weist in der F.A.Z. mit Blick auf die Diskussion über Ungleichheit auf einen „toxischen Hang zur Einseitigkeit” hin – auf beiden Seiten der Kontrahenten. Oxfam halte niedrige Steuern für ein Übel der Menschheit, die Familienunternehmer wollten keinen Cent zu viel an den Staat zahlen. „Das Problem ist – wenn es um Steuern, Ungleichheit und Umverteilung geht, reden die beiden Interessengruppen kaum miteinander”, so Pennekamp. Es ergebe keinen Sinn, „die immer selben Satzbausteine zu wiederholen, ohne sich mit den Argumenten der Gegenseite zu befassen”. Das möge den eigenen Anhängern, deren Interessen man vertrete, ein wohliges Gefühl im Bauch verursachen – die Debatte bringe man so aber nicht voran.

Da ist sicher etwas dran. Allerdings ist es schon ein qualitativer Unterschied, wenn einerseits die Familienunternehmer nicht zuletzt aus der berechtigten Sorge um die Attraktivität des Standortes Deutschland heraus (aktuell laut ZEW Platz 18 unter 21 Industrienationen) niedrigere Unternehmenssteuern fordern, während sich andererseits Oxfam in seinem betriebsblinden Kampf gegen den Kapitalismus zu Aussagen versteigt wie „Every billionaire is a policy failure” und fordert, die reichsten 1 Prozent müssten dauerhaft mindestens 60 Prozent ihres gesamten Arbeits- und Kapitaleinkommens an Steuern zahlen und Multimillionäre und Milliardäre noch höhere Steuersätze. Da sind die Antipoden schon sehr weit auseinander.

Dennoch wäre es wünschenswert, wenn es gelänge, die Debatte um Ungleichheit und Umverteilung, und wer wie viel Steuern zahlen sollte, zu versachlichen. Dazu müsste wohl vor allem Oxfam aus seinem ideologischen Schützengraben herauskommen und anerkennen, dass es gerade der Kapitalismus ist, der die grundlegenden Mechanismen schafft, um Menschen aus extremer Armut zu befreien. Gelingt Oxfam das nicht, womit nach den Einlassungen der vergangenen zehn Jahre leider zu rechnen ist, wird es auch in den kommenden Jahren zu dem üblichen, „traditionell festgefahrenen” Ritual kommen. Geholfen ist damit niemandem, am wenigsten den Ärmsten weltweit.

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